Firmengründung in der Nachkriegszeit

Der Krieg war zu Ende und Darmstadt lag in Trümmern. Für die meisten Menschen bedeutete das einen völligen Neubeginn und den ach so mühsamen Aufbau einer neuen Existenz. Man sah alte Leute und Kinder in den Trümmern der zerstörten Stadt, wie sie Steine abklopften und oft genug in Handwagen oder sonstigen selbst hergestellten Karren nach Hause zogen. Auch ich hatte einen Neuanfang beschlossen. Der Kriegsgefangenschaft hatte ich selbst ein Ende gemacht und war in einer abenteuerlichen Flucht viele Nächte aus Frankreich heimgewandert. Es drängte mich am Neuaufbau unseres Landes teilzunehmen. Das war für mich schon ein Risiko, meine sichere Stellung als Ingenieur in der chemischen Industrie, die ich zunächst wieder kurzfristig aufgenommen hatte, aufzugeben und den Neuanfang zu wagen.

Der Anfang war sehr schwer und der Mangel an Allem unvorstellbar groß. Da die deutschen Länder anfangs wirtschaftlich von einander getrennt waren und das Land Hessen deshalb nur schwer Kinderwagen aus Bayern "importieren" konnte (die Bundesrepublik gab es damals noch nicht), bekamen wir vom Landeswirtschaftsamt grünes Licht für die Herstellung von Kinderwagen. Damit begannen wir; und dies war der Anfang der heutigen Firma H. Diedrichs KG in Darmstadt-Wixhausen. Zunächst sollte auf dem Grundstück meines Schwiegervaters Karl Fritz, damals ein großes Haushaltungsgeschäft in Arheilgen, ein Fabrikgebäude erstellt werden. Hierfür bekamen wir die Genehmigung zur Entnahme von Trümmersteinen aus der Innenstadt. Ein Arheilger Fuhrunternehmen half uns mit seinem uralten Lastwagen. Auf dessen Ladefläche stand ein "Ofen", dessen Energie dazu diente, den Motor zu betreiben. Für diesen Holzvergaser gab es genug Holzabfälle, die sich ebenfalls in Darmstadts Trümmern reichlich fanden. Auch ein befreundeter Bauer aus Arheilgen setzte sich für uns ein und holte mit Pferd und Wagen, was zum Bauen benötigt wurde. So konnten wir beginnen. Noch bevor alles fertig war, begann schon die Produktion. Das erste Kindersportwagen-Modell wurde natürlich nur aus vorhandenem behelfsmäßigem Material gebaut. Eisen und Textilien waren bewirtschaftet (d.h. man konnte sie nur mit Sondergenehmigungen kaufen) und, weil sie für wichtigere Dinge gebraucht wurden, nicht zu beschaffen. So galt es, Ausschau zu halten nach dem, was so an "Schrott" zur Verfügung stand, um damit zu improvisieren. Alles Eisen ersetzten wir durch Holz. Als Achsen für die Kinderwagen dienten uns Gewehrgeschoßhülsen, die in Darmstadt in großen Mengen gelagert waren. Sie wurden, ihrer leicht konischen Form wegen im Laufflächenbereich fein zylindrisch abgedreht und in den vierkantigen Achsträger aus Buchenholz an beiden Enden mit der Öffnung so eingepresst, dass sich der Rand der Hülse im Holz verkrallte und eine unlösliche Verbindung entstand. Die Räder drechselten wir aus Buchenholz. Als Reifen fanden wir kräftige Rundschnurringe aus Gummi. Um den Effekt einer Radblendkappe zu erreichen, pressten wir entsprechende blankgedrehte Radnaben aus Aluminiumguss ein. Diese konnten wir in Arheilgen bei der Firma German aus Aluminiumschrott gießen lassen. Als Ersatz für die Stahlfederung wurde für das Fahrgestell eine Blattfederung aus Buchenholz entwickelt. Zwischen je einem heißgeformten unteren und oberen Federblatt befanden sich die Achskörper. An ihren Enden waren beide Federn nach oben gebogen und mit einem beweglichen Hängeglied miteinander verbunden. Daran wurde der Wagenkörper mit etwas Spannung in das Fahrgestell eingehängt. Sitze, Rücklehnen und Seitenteile konnten, mangels anderen Materials, nur mit kräftigem Jute-Papier-Gewebe gepolstert werden. Die Außenfläche schmückte ein feines Holzgeflecht, und die daran angebrachten hölzernen Schiebestangen zierten bogenförmige blanke Aluminiumecken am Griff. Den Haltegurt flochten wir aus Sackbändern. Dieses Material und die Verschlüsse dazu standen uns aus ehemaligen Wehrmachtsbeständen reichlich zur Verfügung. Die Produktion von Farben und Lacken war in Darmstadt schon verhältnismäßig früh wieder angelaufen. Die Gründungsväter der Firma Farbenkrauth, die heute in Pfungstadt produziert, fingen etwa zur gleichen Zeit im Keller ihres Wohnhauses wieder mit der Herstellung ihrer Lacke an und lieferten uns verhältnismäßig früh einen recht guten Lack.

Dieser erste Kinderwagen, ein Notprodukt der Nachkriegszeit, war stabil, half vielen Menschen aus großer Verlegenheit, wurde gerne gekauft und vom Landeswirtschaftsamt wohlwollend anerkannt. So wurden aus Militärschrott "Schwerter" zu Kinderwagen.

In unserer Kinderwagenfabrikation mussten wir auch mit mancherlei anderen Schwierigkeiten fertig werden. Notwendige Einrichtungen waren nicht zu beschaffen. Die ersten Maschinen für das Pressen von Seitenteilen konstruierten und bauten wir uns deshalb selbst. Die ersten Preßformen wurden aus einem armierten Spezialbeton von einem fein geformten Plastillinmodell vorsichtig so abgegossen, dass die Pressfläche spiegelblank wurde und keine Nacharbeit mehr notwendig war.

Bei allen Schwierigkeiten und Ausweglosigkeiten, die immer wieder auftraten, wusste ich mich im Wagnis von einem unverbrüchlichen Vertrauen zu Gott geleitet. Dieses Vertrauen wurde damals oft starken Belastungen ausgesetzt. Das galt besonders im Blick auf die in dieser Zeit zwangsläufig geschwächte Finanzkraft beim Aufbau der Firmen. Unvergesslich ist mir eine missliche Situation geblieben, die dadurch entstanden war, dass über einen verhältnismäßig langen Zeitpunkt die Zahlungen unserer Kunden unerwartet ausblieben. Die Kapitaldecke meines jungen Betriebes war sowieso dünn, und gerade ausreichend für den normalen Geschäftsbetrieb. Darum hofften wir Woche für Woche auf Zahlungseingänge, aber - vergeblich! Eine brenzlige Lage entstand! Wir wussten nicht mehr, woher wir das Geld für die Lohnzahlungen am Wochenende nehmen sollten. Obwohl ich auf Gottes Hilfe vertraute, blieben die Zahlungen weiter aus. Auch am Zahltag waren weder mit der Post noch bei der Bank Zahlungen eingegangen. Den ganzen Vormittag warteten wir vergebens; nur ein Wunder konnte uns noch helfen.... und es kam. Am Nachmittag erschien unangemeldet ein Kunde aus Bad Hersfeld mit einem Lastwagen und kaufte so viele Kinderwagen, wie er auf sein Fahrzeug laden konnte. Überraschend bezahlte er die hohe Rechnung gleich sofort in bar. Das war weit mehr, als für die Lohn- und Gehaltszahlungen an diesem Tag gebraucht wurde. Unsere Freude und Dankbarkeit Gott gegenüber waren sehr groß.

Als dann mit den Jahren das Kinderwagenprogramm voll ausgebaut wurde, entstand akuter Platzmangel und der Betrieb wurde auf eine neues, größeres Gelände nach Wixhausen verlegt. Die Einweihung wurde 1951 im Beisein des Landrates und des Bürgermeisters von Wixhausen (siehe Bild) festlich begangen.

Durch die Entwicklung eines Tiefpressverfahrens für Spezialpappe, wie es damals für Kinderwagen in Stromlinienform benötigt wurde, interessierte sich auch die Kraftfahrzeugindustrie für uns. Das Volkswagenwerk hatte damals ein Problem mit der Schutzwand im Kofferraum des "Käfers". Dieses Formteil aus Faserguss, das die Rückseite des Armaturenbrettes gegen die Gepäckstücke schützte, kam leicht zu Bruch und verursachte viele Reklamationen. Hier konnten wir mit einem von uns neu konstruierten tiefgepressten Formteil aus fester Karosseriepappe, das schlagfest und unzerbrechlich war, helfen. Das war der Beginn der Umstellung unserer Firma auf die Belieferung der Kraftfahrzeugindustrie und Andere. Die Erstellung der millionsten Schutzwand wurde dann auch entsprechend gefeiert. Im Ganzen wurden ca. viereinhalb Millionen Stück dieses Artikels bei uns hergestellt.

Noch eine Begebenheit bleibt mir unvergessen.- Ein Telefonanruf: "Könnt ihr uns sofort helfen? Bitte! In 36 Stunden müsste sonst das Montageband stehen bleiben!" - Solche Stillstände sind ein Betriebsschreck, weil sie eine Unsumme kosten. Da es sich um die Firma Daimler-Benz handelte, sagten wir sofortige Hilfe, mit dem Wunsch auf Nachfolgeaufträge, zu. Der ganze Sachverhalt war so: Ein Lastzug mit geformten Karosserie-Pappeteilen war auf dem Weg zum Daimler-Werk umgestürzt und alle Teile hatten ihre Form verloren. Neues Material war nicht vorhanden und auch nicht so schnell anzufertigen. Ich besprach mich mit meinen Mitarbeitern, die sich sofort bereit erklärten, die Nacht noch zusätzlich durchzuarbeiten. So konnte ich eine schnelle und formbeständige Aufarbeitung der Teile zusagen. Die Zeichnungen wurden uns durch Boten überbracht und sofort Behelfs-Presswerkzeuge aus Holz, mit Blech armiert, über Nacht hergestellt. Die Teile konnten so umgehend alle aufgearbeitet werden und sind rechtzeitig am Montageband eingetroffen. Die Firma hielt Wort, gab uns auch bald Nachfolgeaufträge, und noch heute arbeiten wir für diesen ersten Kunden.

Inzwischen habe ich die Firma an meinen ältesten Sohn übergeben, der das Produktionsprogramm weiter ausgebaut hat. Er ist heute fachlich führend auf dem Gebiet von Isolierungen für Auspuffanlagen gegen Schall und Wärme durch innovative Impulse und Patente. Neben der Weiterentwicklung in Richtung Kunststoff- und Isolationstechnik ist die Pappeziehtechnik immer noch ein fester Bestandteil der Produktionspalette geblieben. In vielen schwierigen, manchmal ausweglos erscheinenden Situationen, die sich im Laufe der Jahre immer wieder einstellten, wurde ich in meinem Vertrauen auf Gott nie enttäuscht. Ich lernte dabei, schwere Lasten abzulegen, so dassich trotz allem innerlich befreit und froh leben konnte und bis ins Alter im Herzen jung geblieben bin. Das hat mein Leben reich gemacht.

Helmut K. Diedrichs

Es ist uns an dieser Stelle ein Anliegen auf die
IVCG

Internationale Vereinigung
Christlicher Geschäftsleute
hinzuweisen.
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